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5. Februar 2010

Das chinesische Dilemma der Weltgemeinschaft


Mit großer Genugtuung habe ich diese Woche gelesen, dass US Präsident Obama sich dazu entschieden hat, den Dalai Lama im Februar in Washington zu empfangen - trotz offener Drohungen Chinas vor entsprechenden Konsequenzen. Vor dem Hintergrund der vor einer Woche stark beschädigten bilateralen Beziehungen, ist dies ein starkes Signal vonseiten der Vereinigten Staaten. Als am vergangenen Freitag mögliche Rüstungsverträge mit Taiwan im Wert von über 6 Milliarden US-Dollar angekündigt wurden (einschließlich bedeutender defensiver Waffensysteme wie den verbesserten PAC-3 Patriot Luftabwehr-Raketen), führte dies zu starken Protesten von chinesischer Seite. China sieht Taiwan weiterhin als eigenes Territorium und empfindet jegliche internationale Beziehungen zur noch unabhängigen Insel als eine Einmischung in innenpolitische Angelegenheiten. Dasselbe gilt für jegliche Kritik an Chinas Vorgehen und Politik in Taiwan und dem uighurischen autonomem Gebiet Xinjiang im Nordwesten des Landes.

Wie CNN berichtete, warnte Zhu Weiqun, ein hochrangiges Mitglied der kommunistischen Partei und für den Dialog mit Vertretern des Dalai Lama verantwortlich, dass ein Treffen Obamas mit dem tibetanischen Religionsoberhaupt „die Grundlage der US-chinesischen Beziehungen schwerwiegend untergraben“ würde. In einer, meines Erachtens untragbar arroganten Warnung, erklärte Zhu: „Wir werden entsprechende Maßnahmen ergreifen, um involvierten Ländern ihre Fehler aufzuweisen.“ Dies legt eine eklatante chinesische Doppelmoral offen: einerseits wirft China den westlichen Staaten mangelnde Toleranz bzw. Respekt gegenüber der chinesischen Politik und Mentalität vor, andererseits schreibt die chinesische Regierung anderen Staaten vor, wen sie zu empfangen haben und wen nicht und sind darüber hinaus bereit durch „entsprechende Maßnahmen“ Druck auszuüben.

Die US-chinesischen Beziehungen hatten sich im vergangenen Jahr in einer bisher ungekannten Qualität verbessert, nachdem verschiedene hochrangige militärische Delegationen gegenseitige Besuche abgestattet hatten und Obama im November nach Peking reiste. Er bekannte sich zu einer neuen Politik des Dialogs mit China und ließ die chinesische Führung auf eine Abkehr von der Konfrontationspolitik seines Vorgängers hoffen. Die Treffen, die auch eine sehr positiv bewertete Begegnung von Obama und dem chinesischen Staatsoberhaupt Hu Jintao in Kopenhagen einschließen, lieferten zwar nur wenige Ergebnisse oder Veränderungen; allerdings stellten sie einen Dialog dar, der intensiv und vielversprechend war. Seit Dezember 2009/Januar 2010 ist nun bekannt, dass Taiwan, wie bereits in der Vergangenheit, weitere Waffensysteme von der Vereinigten Staaten erhalten soll. Die beiden Staaten haben rege politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen, die ebenfalls den Kauf US-amerikanischer Kampfflugzeuge des Typs F-16A/B, Luft-Luft- und Anti-Schiff-Raketen sowie der oben erwähnten Patriot-Raketen einschließen. Letztere wurden wahrscheinlich von den Vereinigten Staaten mit der strategischen Absicht, über eine vorgeschobene Raketenabwehrfähigkeit durch einen militärischen Partner zu verfügen, an Taiwan geliefert.

Angesichts der von den Vereinigten Staaten wiederholt beteuerte Unterstützung einer Ein-China-Politik, also der Rückkehr Taiwans ins chinesische „Mutterland“ nach nun 61 Jahren, ist die weitere Belieferung Taiwans mit hochmodernen Waffensystemen allerdings fragwürdig. Diese hat verschiedene mögliche und auch tatsächliche Konsequenzen die es wert sind betrachtet zu werden:

1. Wie schon so häufig beobachtet, verschlechtern sich die Beziehungen und somit die gesamte Situation an der Taiwan-Straße mit jeder erneuten Waffenlieferung oder erweiterten militärischen Beziehung, einschließlich gemeinsamer Militärübungen.

2. Es wird die offizielle Politik der Vereinigten Staaten in Frage gestellt, da sich militärische Beziehungen zu Taiwan mit der Unterstützung der Ein-China-Politik nicht vertragen. Wenn sich die Vereinigten Staaten in diese Position manövrieren, unterminieren sie jegliche Verhandlungsbasis und gefährden die selbst beanspruchte Position der internationalen Führerschaft und Vorbildfunktion.

3. Des Weiteren ist die Überlegung interessant, was mit den gelieferten Waffensystemen als auch dem militärischen und industriellen Know-how geschieht, sollte Taiwan tatsächlich wieder (unter welchen Umständen auch immer) von China einverleibt werden. Da dies ja eine mögliche Konsequenz der offiziellen US-Position in Bezug auf die Ein-China-Politik wäre, sollte diese Möglichkeit durchaus betrachtet werden. So besteht natürlich auch jetzt schon die Gefahr eines Informationslecks durch chinesische Infiltrierung in Militär und Unternehmen Taiwans.

Allerdings sollte auch erwähnt werden, dass die Vereinigten Staaten nicht gleich alles von Taiwan angeforderte Gerät liefern. Aufgrund sicherheitspolitischer Bedenken, wurden zum Beispiel Anfragen Taiwans für den Kauf von F-15 Kampfflugzeugen, als auch des mit Tarnkappentechnologie ausgerüsteten F-35 Joint Strike Fighters, bisher zurückgewiesen.

Mut zur vernünftigen Konfrontation

Eine inkonsequente Haltung in dieser Angelegenheit ist durchaus Schädlich für die Vereinigten Staaten und kann weitreichende Konsequenzen (politisch, wirtschaftlich und militärisch) für die Staaten der Region als auch für die internationale Gemeinschaft haben. Da die Republik China – die nach der Flucht der verbliebenen republikanischen Kräfte vor den maotisch-kommunistischen Gegnern auf 1949 Taiwan entstand – meines Erachtens ein regional-politisch wichtiger Gegenpol zu China darstellt sollten die Vereinigten Staaten vielmehr von der Ein-China-Politik Abstand nehmen und sich zu ihrer offenbaren Affinität zu Taiwan bekennen.

Dies würde allerdings weitreichendere Entscheidungen zur allgemeinen Haltung und Beziehung zur Volksrepublik China erfordern. Es müsste die gesamte westliche Staatengemeinschaft einbezogen werden und eine gemeinsame Position konsequent und ungeachtet der Interessen der Wirtschaft implementiert werden. Davon ist man allerdings sehr weit entfernt und der Wunsch nach einer gemeinsamen, mit Nachdruck bestätigten Haltung bleibt, wie in so vielen Bereichen der internationalen Politik (sogar beschränkt auf kleinere politische Einheiten), wohl nur ein Wunschgedanke.

Obamas Entscheidung den Dalai Lama zu empfangen, ist ein richtiger Schritt zur Unterstreichung der selbstbestimmten Machtposition der Vereinigten Staaten, darf jedoch nicht ohne weitere, konsequente Klarstellung dieser politischen Haltung gegenüber China bleiben, da die Wirkung ansonsten im üblichen und bestimmt bald wieder einsetzenden politischen und wirtschaftlichen Geschachere verpufft.

Dies geht Hand in Hand mit beanspruchten ethischen Prinzipien, die offenkundig in Afghanistan und an anderen Orten der Welt von der westlichen Staatengemeinschaft versucht werden durchzusetzen. In der Tat werden führende Nationen der westlichen Welt, einschließlich Deutschland, nicht müde (wohlgemerkt dort wo es den eigenen wirtschaftlichen Interessen nicht schadet) die durchaus wichtigen Errungenschaften der Menschenrechte und den Willen, diese anderen Nationen angedeihen zu lassen, zu betonen. Insbesondere hat sich der Afghanistan-Einsatz, wie in meinem letzten Beitrag erläutert, bereits in den ersten Jahren in der öffentlichen Darstellung von einem Anti-Terror-Einsatz zu einem Einsatz mit moralisch-ethischen Grundlagen gegen die Taliban gewandelt (womit sich dieser Einsatz völkerrechtlich als Krieg definieren lässt, da er gegen das staatliche Regime der Taliban gerichtet ist und nicht nur gegen eine terroristische Organisation). Es gibt nur wenige Kriege, die eine solche Wahrnehmungsänderung vollzogen haben; hier insbesondere, um ihm der eigenen Bevölkerung besser „verkaufen“ zu können.

Nun unterliegt dies leider eine Doppelmoral, da trotz bekannter und oft monierter Menschenrechtsverletzungen in China, als auch in anderen Staaten der Welt, keine Konsequenzen politischer oder militärischer Art folgen. Es werden zum Beispiel keine Sanktionen in Bezug auf diese Menschenrechtsverletzungen erhoben (wobei ich Sanktionen, angesichts ihrer ausschließlichen Auswirkungen auf die oft schon leidende Bevölkerung des jeweiligen Landes, als eines der am wenigsten zielführenden politischen Mittel erachte), da diese im vorliegenden Fall wiederum wirtschaftlichen Schaden für das eigene Land bedeuten könnten.

Trugschlüsse der Wirtschaft

Mit zweifelhaften Argumenten mischt sich auch die Wirtschaft in die Diskussion ein, die befürchtet einen vermeintlich wichtigen Markt zu verlieren. Tatsächlich wäre ein Zusammenbruch der chinesischen Wirtschaft eine Katastrophe für die Weltwirtschaft, da über die Jahre zahlreiche Interdependenzen im Finanz- und Produktionsbereich entstanden sind, die im Falle eines Zusammenbruchs ungeahnte Auswirkungen nach sich ziehen würden. Dies ist einer der Gründe, den die Wirtschaft häufig für ein Beibehalten des Dialogs und der Kooperation auf allen profitablen Ebenen und darüber hinaus anführt. Der chinesische Markt wird also in die Schutzhaft der westlichen Wirtschaftswelt genommen, allerdings aus eigener Angst vor dessen wirklichen Ausmaßen und ihm innewohnenden Macht.

Es wird sich aber auch auf das scheinbar paradoxe Argument berufen, dass insbesondere wirtschaftliche Beziehungen und Niederlassungen in China zu einer Verbesserung der dortigen sozialen und Arbeitszustände führen können. Begründet wird dies mit dem Einfluss und den Standards der westlichen Unternehmen, die dann in Niederlassungen in China angewandt werden oder sich auf dort ansässige Zulieferer auswirken. Dies ist allerdings ein Trugschluss und trifft nur auf wenige Großunternehmen zu, die über die erforderliche, wirtschaftliche Machtposition verfügen um ansatzweise ihre Standards und ihr soziales Verständnis zu oktroyieren oder langsam durchzusetzen.

Ein wirklicher Einfluss, der die Grundlagen chinesischen Verständnisses von Arbeitsrechten, sozialer Verantwortung und, im Entferntesten, Menschenrechten erschüttern, geschweige denn verändern könnte, kann nicht von einzelnen, in der Regel nicht untereinander koordinierten Unternehmen ausgehen. Und ob sich nun die Zustände durch vereinzelte „Einflussnahme“ unabhängiger Unternehmen, oder doch eher durch eine langfristig angelegte, einheitliche China-Politik der westlichen Welt verändern lassen, bleibt fraglich. Letzteres würde allerdings den Druck auf China in einem Maße erhöhen, dass die Führung des Landes und den Markt, der ohne ausreichende politische und ethische Regelungen als auch ohne eine historisch angemessene Entwicklung ausufert, in eine gesündere Relation zur übrigen Welt versetzen könnte.

Die Wirtschaft, als treibender Faktor der Entwicklung im späten 20. und im 21. Jahrhundert, muss sich hier ihre Grenzen eingestehen, da sie bei genauem Hinsehen feststellen muss, dass keine von außen kommende Einflüsse das allgemeine chinesische Verständnis und Gedankenkonstrukt verändern können. Ein Wandel kann in diesem Land, das zwar Zentral regiert, allerdings stark regional und lokal geprägt und gesteuert ist, nur aus inneren Antrieben entstehen. In den Großstädten vollzieht sich bereits ein Wandel. Allerdings nur so weit, dass China nun die bisher „verpassten“ Annehmlichkeiten der Industrienationen genießt und bis in neue Extreme hinein ausreizt. In den letzten 20 Jahren gab es eine verstärkte Verhaltensanpassung der Bevölkerung. Von einer Veränderung der Mentalität möchte ich nicht sprechen, da diese sich nicht wirklich eingestellt hat. Vielmehr kommt vor allem die ostchinesische Bevölkerung vermehrt mit einer neuen, bunten Wirtschafts- und Konsumwelt in Kontakt und geht darin auf. Ob dies auch Auswirkungen auf politisches Verhalten und gar auf die Regierung haben wird, muss sich noch zeigen. Hoffnungsschimmern, wie zum Beispiel der offenere Dialog mit den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr, folgen allzu häufig dicke, dunkle Wolken, die allerdings das tatsächliche Bild des modernen Chinas wieder schärfen.

Politische Beziehungen neu definieren

Bisher waren die einzigen gestaltenden Faktoren der politischen Beziehungen der westlichen Welt zu China wirtschaftliche Interessen, politische Furcht und trügerische Selbstüberschätzung des Westens. Die wenigen Mahnungen zu mehr sozialer Verantwortung und Reife Chinas, die nur vereinzelt angesetzt werden und nicht mit den nötigen Nachdruck verliehen bekommen, verpuffen angesichts der Unbeweglichkeit des chinesischen kommunistischen Regimes als auch der Ehrfurcht vor einer zügellos emporschießenden Wirtschafts- und Militärmacht.

Möchte der Westen allerdings glaubwürdig bleiben und auch weiterhin seine Führungsstellung behaupten, so muss er einen gemeinsamen und konsequenten Kurs gegenüber der chinesischen Regierung einschlagen. Dieser sollte auf den drei folgenden Prinzipien fußen:

1. Offene Anerkennung der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Chinas für die Region;
2. Konsequente Kritik der innenpolitischen Verhältnisse;
3. Drohung der politischen Isolierung Chinas, sollte es weiterhin seiner Verantwortung im internationalen Gefüge nicht gerecht werden.

Den Kreis schließend, umfasst die Kritik der innenpolitischen Verhältnisse selbstverständlich auch der weitere Dialog und die politische Unterstützung des Dalai Lamas. Ebenso sollte die internationale Gemeinschaft die islamischen Uiguren nicht kriminalisieren oder aufgrund ihrer zurzeit in den Vereinigten Staaten und Westeuropa nicht modischen Religionszugehörigkeit ignorieren. Sie verfolgen dasselbe, berechtigte Ziel der Anerkennung ihres Status als autonomes Volk, das seine Regierungsform und seine Lebensweise selbst wählen darf, wie es aus die Tibeter tun. Wenn sich Elemente dieser Bevölkerungsgruppe dazu genötigt fühlen, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen, ist dies angesichts dem ihnen gegebenen Möglichkeiten als auch der historischen Vergangenheit Europas und dem Werdungsprozess der Demokratie seit 1789, durchaus nicht verachtenswert und sollte nicht kriminalisiert werden. Besonders wichtig ist, dass jegliche weitere Unterdrückung vielmehr zu einer Radikalisierung der dort lebenden Muslime führen wird und somit auch dies konträr zum, in Afghanistan geführten Kampf gegen den radikalen, terroristischen Islamismus verlaufen würde.

Allerdings werden Regierungen in der Regel solche Bewegungen nicht offen unterstützen, da es nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China beenden, sondern auch zu Problemen der eigenen Legitimation gegenüber vereinzelt bestehenden separatistischen Bewegungen führen würde. Wie sollte man einerseits die Emanzipation und politische Selbstständigkeit der Tibeter und Uiguren unterstützten, wenn zu Beispiel Russland und Georgien sich im Kaukasus mit ähnlichen Abspaltungsbewegungen konfrontiert sieht. Es würde sogar Wasser auf die Mühlen der häufig militanten, baskischen Abspaltungsenthusiasten im „Herzen“ Europas gießen. Also wird auch aufgrund der eigenen politischen Erfordernisse der westlichen Gemeinschaft in diesem Fall nicht mit Unterstützung zu rechnen sein.

Die in den westlichen Territorien nachweislich begangenen Menschenrechtsverletzungen sowie die oktroyierte, völkerrechtswidrige Assimilierung der dort lebenden Bevölkerung, sollten in Bezug auf die Beziehungen zu China stärker als bisher gewichtet und unbedingt in eine Neudefinierung der Beziehungen einbezogen werden. Eine solche Neudefinierung bleibt nicht aus, da der zurzeit unkontrollierte Kurs der Beziehungen bereits durch relativ kleine Impulse in äußerst gefährliche Zustände geraten kann. Kaum ein anderes Land kann so viele Grenzkonflikte aufweisen wie China: Indien, Nepal, Laos, Vietnam, die Spratly-Inseln, Taiwan, und die Mongolei sehen sich bereits Jahrzehnte andauernden Querelen mit ihrem großen Nachbar ausgesetzt. Dies hängt nicht nur mit dessen geographischen Ausdehnung zusammen, sondern ist insbesondere durch die außenpolitische Haltung und Mentalität Chinas bedingt, die sich insbesondere von der Verzerrung der eigenen Wahrnehmung aus der Zeit Maos nicht erholt hat. Sie hat vielmehr eine nahezu unnatürliche Entwicklung durchlaufen, die in Konfrontation zur eigenen Region und zur industriellen Welt gerät.

Das stille Pulverfass des Fernen Ostens kann zu einem Umsturz auf der einen oder der anderen Seite führen, sofern man die Seiten in diesem komplexen Umfeld klar abgrenzen kann. Die Zeichen weisen allerdings auf einen abrupten Wandel hin, der sich in der bisherigen Menschheitsgeschichte selten ohne Blutvergießen vollzogen hat. Nicht alle Gesellschaften und Regierungsformen dieser Welt bieten die Grundlagen für eine friedliche Revolution, wie es zum Beispiel die Bevölkerung der DDR – in ihrer ausgeprägtesten Form in den Leipziger Friedensgebeten und -demonstrationen – das Glück hatte zu erleben.