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24. Juli 2016

„Die Welt ist aus den Fugen geraten!“

Angst, Panik und Empörung – Die gefühlte Unsicherheit der Masse


„Die Welt ist aus den Fugen geraten!“ Diesen Satz, wird leider von Politikern, Journalisten und Bürgern immer häufiger geäußert – zuletzt in Folge des Amoklaufs in München am 22. Juli 2016, der erst als islamistischer Terrorakt wahrgenommen wurde, sich aber bald als die Tat eines offenbar depressiven Schülers herausstellte. So schnell kann das Weltbild der Masse ins wanken geraten! Nun fragen empörte und verängstigte Menschen sich also erneut die ewige Frage „Ist die Welt aus den Fugen geraten?“ In welcher Welt haben diese Menschen denn während der letzten 100 Jahre gelebt? Oder selbst nur in den letzten 30 bis 40 Jahren?

Abgesehen von zwei Weltkriegen während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts (wieviel mehr kann eine Welt aus den Fugen geraten?), war das 20. Jahrhundert eine Aneinanderreihung menschlicher und politischer Katastrophen: Der Koreakrieg, die Kubakrise, der Indochina- und Vietnamkrieg, die israelisch-arabischen Auseinandersetzungen, der Afghanistankrieg der Russen, die ersten beiden Irakkriege, der Falklandkrieg, die scheinbar immerwährenden Konflikte in West-, Ost- und Zentralafrika, die Drogenkriege in Süd- und Zentralamerika und nicht zuletzt auch der Nordirlandkonflikt und der Balkankrieg vor unserer eigenen Haustüre … und dies ist nur ein Auszug an politischen, religiösen und ideologischen Konflikten, deren Liste scheinbar unendlich ist. An fast jeder Ecke der Welt hat es in den letzten 100 Jahren irgendwo einmal „gebrannt“, sind abertausende Menschen sinnlos gestorben, wurde geputscht, gestürzt, gemordet.

Alleine in West- und Südeuropa war die „Welt“ nicht sonderlich stabil. Abgesehen von der immerwährenden Bedrohung der nuklearen Vernichtung durch den Kalten Krieg gab es auch ständig Auswüchse unmenschlicher Handlungen, wie dem RAF-Terror, der teils brutalen Unabhängigkeitsbewegung der Basken und Korsen mit zahlreichen Bombenattentaten in französischen Städten, der Maffia-Terror in Süditalien, der Terror unterschiedlicher rechtsradikaler Gruppierungen in Westeuropa. Griechenland war nach dem Zweiten Weltkrieg in einen ideologisch geprägten Bürgerkrieg gestützt worden und wurde schließlich bis 1974 durch eine Militärdiktatur regiert. In Spanien musste erst General Franco nach 36-jähriger Herrschaft sterben, damit das Land von einer faschistischen Diktatur, die ebenfalls aus einem Bürgerkrieg hervorgegangen war, zu einer konstitutionellen Monarchie werden konnte.

Wie tagesschau.de kürzlich zeigte, lag die Zahl der Terrortoten in Westeuropa von den 70er Jahren bis 1989 jedes einzelne Jahr über 150 Menschen und erreichte zum Teil über 400 Tote. Seitdem lag sie regelmäßig unter 100 Toten und überschritt die zuvor jährliche Mindestzahl von 150 nur ein einziges Mal in den frühen 2000ern.

Hier ist nichts aus den Fugen geraten! Es ging nie friedlich zu in der Welt, selbst wenn in bestimmten Regionen Menschen über einen längeren Zeitraum in Frieden lebten oder zu leben glaubten. Gerade diese „friedvollen“ Inseln suggerieren ihren glückseligen Bewohnern, dass alle um sie herum dem mörderischen Wahnsinn verfallen sind. Sie vergessen schnell ihre eigene Geschichte (insbesondere die jungen Generationen, die es nie anders gekannt haben), den Anteil ihres eigenen Landes an diesen Zuständen. Amokläufe, Terrorattentate, politische Umstürze, Armut, Massenmörder, soziale Unruhen, etc. – all das gehört zu dieser Welt seitdem wir denken können. Und dennoch denkt nahezu jede Generation, dass ihre Welt aus den Fugen gerät.

Man sollte meinen, dass die Menschheit durch die in den letzten Jahrzehnten weltweit verfügbare Informationsflut des Internets einen Schritt nach vorne gemacht haben könne. Leider sind all diese Informationen nichts wert, wenn Sie von einem eingeschränkten Geist aufgenommen werden. Diese Einschränkung kann verschiedene Ursachen besitzen. Doch die am meisten verbreitete Hürde unserer „westlichen“ Gesellschaft ist, meiner Meinung nach, mangelnde humanistische Bildung. Nicht die Welt ist aus den Fugen geraten … ein Großteil der Menschen der vorgeblich zivilisierten Welt wird seinem eigenen geistigen Potential nicht gerecht.

Es sind auch nicht die Medien schuld, wie es so oft von der halbgebildeten Masse als Entschuldigung für ihre Unwissenheit lautstark behauptet wird (die Lautstärke ist übrigens häufig ein guter Indikator für den Bildungsgrad – selbstverständlich in antiproportionaler Beziehung). Die Medien kommen aus unserer Mitte. Journalisten sind Menschen wie jeder andere, mit Ambitionen, Interessen, Ideologien und anderen Formen der Motivation. Die Gesamtheit der täglichen Erzeugnisse der Medienschaffenden – von Blogs über Zeitungen bis hin zu Fernsehsendungen – gibt daher meines Erachtens ein durchaus durchschnittliches Bild der Gesellschaft wieder. Dies schließt Einflussnahme von Interessengruppen ebenso ein, wie direkte Propaganda, Verschwörungstheorien und schlichtweg falsche Schlussfolgerungen aufgrund voreiliger Schlüsse, falscher Vorstellungen und schlechter Quellenprüfung. Es entstehen aber auch eine Fülle guter Artikel, Kommentare und Analysen durch sehr fähige Journalisten, Beobachter und Politiker. Die allgemeine Verteuflung dieser Berufsstände ist zu einer Mode geworden, die einen mit großer Sicherheit davor bewahrt, sich ernsthaft und offen mit ihnen zu beschäftigen. Eine sehr bequeme Lösung!

Es sind alle nötigen Informationen vorhanden, um sich eine ausgewogene Meinung zu bilden. Sie stehen in unserem Teil der Welt jedem zur Verfügung. Die Publikation von Zeitungen, Internetartikeln und Büchern ist hierzulande vollkommen frei und überall zugänglich: Buchhandlungen, Printmedien, Computer, Smartphones, städtische Büchereien, Universitäten, Informationssammlungen privater Institutionen, etc. Noch nie in der gesamten Geschichte der Menschheit konnte man einfacher und schneller an Informationen zu jeglichen Themen kommen wie heute. Das ist eine Informationsfülle, die durch einzelne politische Interessengruppen gar nicht zu kontrollieren ist. Wer möchte, kann sich daher unabhängig jeglicher politischer Einflussnahme bilden. Es bedarf aber eben jenes Willen und Engagements!

Vor einigen Monaten führte ich auf der Arbeit ein Gespräch mit einem Kollegen über ein aktuelles politisches Ereignis. Ein volljähriger Auszubildender hörte zu und stellte eine Frage, die er so nur stellen konnte, wenn er während des vergangenen Monats weder eine einzige Zeitung (Online oder Print) noch die Nachrichten im Fernsehen (öffentlich-rechtlich oder privat) gelesen oder gesehen hatte. Dem war auch so. Also fragte ich ihn, ob er ein Smartphone besäße. Da er die Frage bejahte, fragte ich weiter, warum er sich nicht informiere, wenn diese Informationen doch nur einige Klicks entfernt seien. Daraufhin bekam ich die Antwort: „Nicht jeder hat halt die gleichen Interessen wie du!“ Ein weiteres Mal in einer ähnlichen Situation hörte ich das Argument: „Nicht jeder hat soviel Zeit wie Du, um sich zu informieren!“ Da war die erste Antwort schon ehrlicher, wenn auch nicht intelligenter!

Was soll man da noch entgegnen? Ich weiß, dass diese Menschen nicht mehr als einen Job haben, ebenso viele Stunden arbeiten müssen wie ich, ebenso viel Urlaub haben wie ich und auch sonst nicht in irgendeiner Form in ihrer Freizeit stärker eingeschränkt sind als ich. Also muss es andere Gründe haben, dass sie es nicht schaffen wenigstens 15 bis 30 Minuten am Tag dazu aufzuwenden, sich zu informieren, ihre Meinung (die sie oft mit verblüffender Selbstverständlichkeit besitzen und verteidigen) mit einem ausreichenden Fundament an Wissen zu hinterfragen, zu analysieren, zu untermauern. Nein, in den wenigen wachen Momenten ihres Lebens empören sie sich lieber über oder fürchten sich lieber vor all dem, was sie nicht verstehen können, was nicht in ihr Weltbild passt, sofern sie es nicht im seichten Verlauf ihres Alltags verdrängen können. Und ja: IHRE Welt gerät dann durchaus aus den Fugen! In „logischer“ Schlussfolgerung ist daher selbstverständlich die ganze Welt aus den Fugen geraten! Denn das muss doch so sein, wenn das eigene Empfinden der „Welt“ Risse bekommen hat, oder?

Denen, die die Geschichte der Menschheit auch nur im Ansatz kennen, muss ich glücklicherweise nicht sagen: Die Welt ist nicht aus den Fugen geraten. Es hat nie Fugen gegeben, in denen sie sich hätte befinden können. Das große Experiment „Menschheit“ läuft genauso chaotisch und scheinbar ziellos weiter wie bisher, die Welt dreht sich weiter. Alle anderen sollten sich entweder um eine Bildung bemühen (und das kostet heutzutage fast nichts) oder sich bis zum nächsten empörungswürdigen Ereignis schlafen legen, um dann wieder die Verfugung des Weltgeschehens in Frage stellen zu können. Aber bitte tut dies weniger Laut, damit die kommenden Generationen nicht mit Eurer Angst aufwachsen müssen.