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23. November 2014

"Der alte Bettelmönch"

Es ist seltsam, dass man manchmal über Gedichte stolpert, die eine unbekannte, undefinierbare Saite in einem selbst zum erklingen bringen. Man liest das Gedicht und bemerkt, dass gewisse Formulierungen, Gedanken oder auch nur einzelne Worte wie ein wohliges Gefühl vom Blatt über die Augen in den eigenen Geist hinein strömen und dort ein einfaches, zufriedenes Lächeln erzeugen. Das ist die Magie gut gewählter, vom Dichter tief empfundener Worte, die seine Gedanken, sein Sein in dem wertvollen Moment des Schreibens transportieren.

Nun, so ein Gedicht war heute für mich jenes des buddhistischen Mönches Thich Nhat Hanh, das ich auf seiner englischprachigen Facebook-Seite gefunden habe. Ich musste es sofort ins Deutsche übersetzen, um es hier mit anderen teilen zu können. Ich hoffe die Übersetzung ist mir gelungen, denn Gedichte stellen eine besondere, anspruchsvolle Herausforderung dar. Viel Freude beim lesen!

"Der alte Bettelmönch"

Als Fels, als Gas, als Nebel, als Geist,
als Mesone, die durch die Galaxien reisen,
mit der Geschwindigkeit des Lichtes,
bist du hierher gekommen, meine Geliebte.
Und deine blauen Augen glänzen, so schön, so tief.
Hast den für dich vorgezeichneten Weg genommen,
vom Nicht-beginnenden zum Niemals-endenden.
Auf deinem Weg hierher, sagst du,
gingst du hindurch durch
viele Millionen Geburten und Tode.
Unzählige Male verwandeltest du dich
in Feuerstürme im Weltraum.
Du hast deinen Körper dazu benutzt,
um Alter von Bergen und Flüssen zu bestimmen.
Du hast dich offenbart
als Bäume, Gras, Schmetterlinge, Einzeller
und als Chrysanthemen.
Doch die Augen, mit denen du mich heute morgen ansiehst,
sagen mir, dass du nie gestorben bist.
Dein Lächeln lädt mich ein zu diesem Spiel,
dessen Anfang niemand kennt,
dem Versteckspiel.

O grüne Raupe, feierlich benutzt du deinen Körper,
um die Länge des Rosenastes zu bestimmen, der letzten Sommer wuchs.
Jeder sagt mir, meine Geliebte, du seiest erst letzten Frühling geboren.
Sag mir, wie lange bist du schon hier?
Warum bis jetzt warten, um dich mir zu zeigen,
das Lächeln tragend, das so still und so tief ist?
O Raupe, Sonnen, Monde und Sterne entströmen jedes Mal wenn ich ausatme.
Wer weiß, dass das unendlich Große zu finden sei
in deinem winzigen Körper?
Auf jedem Punkt deines Leibes
wurden tausende Buddhafelder errichtet.
Mit jedem Ausstrecken deines Körpers bemisst du die Zeit
vom Nicht-beginnenden zum Niemals-endenden.
Der große Bettelmönch aus alten Zeiten ist noch auf dem Geierberg,
den immerwährend schönen Sonnenuntergang betrachtend.

Gautama, wie seltsam!
Wer sagt, dass die Udumbara-Blume
nur einmal alle 3.000 Jahre blühe?

Das Geräusch der Flut - du kommst nicht umhin es zu hören,
wenn du ein aufmerksames Ohr hast.

(von Thich Nhat Hanh,
Übers. von Nicolas von Kospoth)

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